In erb- und betreuungsrechtlichen Streitigkeiten wird oft behauptet, dass der Erblasser oder Vollmachtgeber bei der Erstellung eines Testamentes oder der Vollmacht beeinflusst worden ist. Häufig steht die beeinflussende Person dem Menschen, der Testament oder Vollmacht aufsetzt oder ändert, näher als dessen gesetzliche Erben, meist die Kinder. Jene leben vielleicht weit entfernt, haben kaum oder gar keinen Kontakt mehr. Die mutmaßlich unter Beeinflussung entstandenen Verfügungen gehen aber direkt zu Lasten des zukünftigen Erbes. Die begünstigten Personen haben immer eine besondere persönliche Nähe zu dem alten Menschen. Das kann ein neuer Lebensgefährte oder eine neue Lebensgefährtin sein, aber auch der Nachbar, der Altenpfleger, die Putzfrau.
Natürlich steht es grundsätzlich jedem frei, ihm nahestehende Personen testamentarisch zu bedenken, zu beschenken oder ihnen vertrauensvoll Vollmachten auszustellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der über sein Erbe oder über sein Vermögen Verfügende noch voll geschäfts-bzw. testierfähig ist, sich also noch einen freien Willen bilden kann. Davon kann nicht mehr ausgegangen werden, wenn er unter einer übermäßigen Beeinflussung der ihm nahestehenden Person steht. Die Grenzen zwischen dem, der sich selbstlos um einen alten Menschen in seiner Nähe kümmert, von diesem dann bedacht wird und von den Erben zu Unrecht angegriffen wird und demjenigen, der seine persönliche Nähe zu einem alten, hilflosen Menschen skrupellos ausnutzt, um diesen zu Verfügungen in seinem Sinne zu bringen, sind fließend.
Es stellt sich die Frage, ab wann von einer übermäßigen Beeinflussung und nicht mehr von einer freien Willensbildung auszugehen ist und wie man das erkennt. Vor Gericht ist diese Frage durch ein medizinisch psychiatrisches Gutachten zu klären. Voraussetzung für eine übermäßige Beeinflussung ist zunächst einmal eine krankhafte Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung, etwa durch eine entsprechende Erkrankung wie Demenz. Darüber hinaus muss die Einflussnahme nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 05.12.1995 den Willen der verfügenden Person „übermäßig beherrschen“.
Dabei ist die Einflussnahme von einer Beratung abzugrenzen. Denn fast jeder, der ein Testament aufsetzt oder seine finanziellen Angelegenheiten regelt, benötigt hierfür Beratung und Hilfe. Dabei gilt auch das Aufnehmen der Anregung Dritter und deren Umsetzung kraft eigenen Entschlusses als freie Willensbildung.
Häufige Anhaltspunkte aus juristischer Sicht für eine unzulässige Beeinflussung sind:
- Testamentarische Bestimmungen mit unterschiedlichen Begünstigten in kürzeren Abständen, jeweils nach deren Besuch,
- Unterbindung von Informationsmöglichkeiten, beispielsweise Besuchsverbote für potentielle Erben,
- gezielte Falschinformationen, die Befürchtungen schüren, sein Kind wolle den Erblasser ins Altenheim abschieben,
- Anwesenheit oder auch Intervention eines potentiellen Erben bei der Testamentserrichtung,
- die Drohung, Pflegeleistungen oder sonstige unterstützende Maßnahmen nicht mehr durchzuführen, wenn man im Testament nicht berücksichtigt werde.
Aus psychiatrisch-medizinischer Sicht wird das Vorliegen einer Erkrankung oder kognitiven Störung betrachtet, die eine übermäßige Einflussnahme zulässt.
- Das sind etwa Gedächtnisstörungen, beispielsweise wenn sich der Erblasser nicht an frühere Testamentserrichtung zu erinnern vermag.
- Auch Apathie, eine Störung des Antriebs, die bei einer Demenz nicht selten ist, ermöglicht eine übermäßige Einflussnahme dadurch, dass ein potenzieller Erbe mit einem Notar den Inhalt des Testamentes vorbespricht und der Erblasser beim Notartermin das ihm vorgelesene Testament nur noch abnickt und unterschreibt. Durchaus möglich ist, dass die schwere geistige Beeinträchtigung dabei dem Notar verborgen bleibt. Ursache ist das so genannte Fassadenphänomen, wonach ein Mensch einen normalen Eindruck machen kann, obwohl er schon an einer schweren dementiellen Erkrankung leidet, es aber schafft, durch einfache Antworten nach außen hin den Eindruck zu erwecken, er verstünde alles.
- Auch bei einer schweren Depression kann es zu einer unzulässigen Beeinflussung kommen, weil die Betroffenen oft hochgradig ambivalent sind. Sie grübeln ständig über alle möglichen Konsequenzen nach, ohne zu einer Entscheidung zu kommen. Dadurch ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein Erblasser die Entscheidung eines Dritten einfach übernimmt, um sich selbst die für ihn so quälende Entscheidung zu nehmen. Anhaltspunkte hierfür sind zielloses Hin- und herlaufen, Ratlosigkeit in alltäglichen Fragen und die Unfähigkeit, Aktivitäten im Voraus zu planen und durchzuführen.
- Schließlich fällt noch der Wahn unter die zu betrachtenden krankhaften Geistesstörungen. Bei ihm ist jedoch grundsätzlich keine Einflussnahme möglich, denn ein Wahn ist durch eine subjektive Gewissheit und Unkorrigierbarkeit charakterisiert. Hier besteht allerdings die Möglichkeit der Beeinflussung durch gezielte Informationen zur Verstärkung einer Befürchtung, etwa ins Heim eingewiesen zu werden.
- Neben krankhaften Geistesstörungen ist aber eine übermäßige Einflussnahme auch schon bei einer Person mit einer bloßen Geistesschwäche möglich, etwa bei einer Minderbegabung. Besonders schwierig ist diese Frage zu beurteilen bei funktionalen Analphabeten, die nicht in der Lage sind, einen zusammenhängenden Text zu lesen und zu verstehen. Man schätzt, dass es heute unter den über 65-Jährigen über 2 Millionen funktionale Analphabeten gibt. Bei vielen Leuten dieser Generation hängt das jedoch nicht mit einer Minderbegabung zusammen, sondern mit fehlenden Bildungsmöglichkeiten durch Krieg und Flucht. Egal, was die Ursache für den Analphabetismus ist, er eröffnet der unzulässigen Beeinflussung viele Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch an eine im Alter nicht seltene starke Sehbehinderung zu denken.
- Schließlich sind betroffene mit einer Bewusstseinsstörung, einer so genannten deliren Symptomatik, sehr beeinflussbar. Gekennzeichnet ist diese durch die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit längere Zeit zu fokussieren, Information richtig aufzunehmen, ordnen und bewerten zu können. Hier gibt es zwar auch „klare“ Phasen, die mit „Verwirrtheitszuständen“ abwechseln, die Betreffenden sind jedoch zumeist nicht in der Lage, die Erinnerungslücken während der deliranten Phasen schnell wieder aufzufüllen, so dass von einer Unterbrechung der Erlebniskontinuität auszugehen ist. Aus dieser nicht vorhandenen oder ungenauen Erinnerung eröffnet sich die Möglichkeit einer übermäßigen Einflussnahme. Vor allem bei Hochbetagten können die delirischen Zustände bis zu mehreren Wochen andauern. Ein neues Testament nach dem Erwachen aus einer solchen delirischen Phase, selbst bei scheinbarer wiedergewonnener Klarheit, ist also kritisch zu betrachten, besonders wenn es der zeitlebens vorgenommenen testamentarischen Bestimmung widerspricht.
Neben den juristischen und medizinischen Anhaltspunkten gibt es noch weitere, vor allem soziale und psychologische Faktoren:
- Abhängigkeit, insbesondere von Pflegeleistungen oder sonstigen unterstützenden Maßnahmen,
- Isolation, z.B. bei Bettlägerigkeit oder Betreuung durch eine einzige Person,
- Familiäre Konflikte. Es kommt vor, dass der Erblasser sich nicht in der Lage sieht, aufgrund sich widersprechender Informationen von verschiedenen Seiten eine Entscheidung zu treffen und dann eine Partei, die ihn besonders bedrängt, berücksichtigt, um einfach „seine Ruhe zu haben“.
Der Text beruht auf dem Aufsatz „Gibt es medizinische Anhaltspunkte für eine Beeinflussung durch Dritte?“ von Prof. Dr. Tilman Wetterling, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes-Klinikum Hellersdorf, in ErbR 10/2015, Seite 544, und dessen Vortrag “Neues vom Erbschleicher – aus medizinischer und juristischer Sicht“.